Interview mit Margret Rasfeld vom Jänner 2020, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Straßenzeitung marie

EIN FREI-DAY FOR FUTURE PRO WOCHE

Die Berliner Bildungsinnovatorin Margret Rasfeld, 68, Schulleiterin i.R, Mitbegründerin der Initiative „Schule im Aufbruch“, Nachhaltigkeitsexpertin, Buchautorin und weltweit Vortragende ist Anfang März zu Besuch in Vorarlberg. Wir haben im Vorfeld mit ihr gesprochen: Darüber, worunter Schüler*innen am meisten leiden, wohin sich Schule entwickeln sollte und was es mit dem FREI-DAY for future auf sich hat.

marie: Sie haben zwei Schulen gegründet, sie erfolgreich geführt, Auszeichnungen dafür bekommen. Was zeichnet diese Schulen denn aus?

Margret Rasfeld: Diese – und etliche weitere – zeichnet eine andere Haltung aus: Wir trauen den Kindern sehr viel zu und bieten ihnen möglichst viele Gelegenheiten, sich auszuprobieren. Lehrer verstehen wir als Unterstützer des Lernprozesses und nicht als Wissensvermittler. Schulen wie diese haben das Lernen an echten Herausforderungen und Realaufgaben strukturell verankert. Denn Verantwortung zu übernehmen, mit Ungewissheiten umzugehen oder selbstbestimmt auf Situationen zu reagieren lernt man nicht am Tisch mit Arbeitsblättern. Dazu muss man sich rausbegeben ins wahre Leben. Und so haben wir einige ungewöhnliche Fächer wie „Verantwortung“ oder „Herausforderung“ kreiert.

Welche Fächer fehlen noch an unseren Schulen?

Wir müssen weg von den Fächern. Wir zersplittern den Schulalltag in Fächer, die nichts miteinander zu tun haben. Es wäre wichtig, über Projekte zu lernen, Themen aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Und selber aktiv zu werden, eigene Fragen stellen zu dürfen, anstatt nach Antworten zu suchen, die als Lösung längst im Lehrerhandbuch stehen …

… und nur ein Richtig oder Falsch zulassen.

Genau. Und wir wundern uns dann, wenn Kinder ihre Kreativität verlieren! Wer zehn Jahre lang fremde Fragen beantwortet, verlernt eigene Fragen zu stellen. Am besten wäre es, man würde nur noch in Projekten arbeiten. Aktuell versuchen wir in Deutschland mit dem „FREI-DAY for future“ zumindest einen Tag pro Woche für projektbasiertes Lernen strukturell zu verankern: also mindestens vier Stunden pro Woche dem Lernbereich Zukunft und damit Themen wie Nachhaltigkeit, Klima, Frieden zur Verfügung zu stellen. Wissen, Handeln, Netzwerke aufbauen, um diese drei Aspekte geht es. Alleine kann keiner diesen Wandel schaffen. Wir brauchen Bündnisse und wir haben Menschen mit sehr viel Expertise, die allerdings durch die herkömmliche Stundenplan-Taktung nicht in die Schulen reinkommen. Ein FREI-DAY könnte das ändern, könnte Schulen für Netzwerke öffnen.

Worunter leiden Schüler*innen aktuell denn am meisten?

Unter Langeweile. Darunter, dass sie Dinge lernen müssen, die wenig Sinn machen und sie nicht für die großen Themen befähigen. Im Grunde sind sie überfordert von fremdbestimmten Inhalten und unterfordert in ihrem Humanpotenzial. Es fehlt an Sinn und Beteiligung. Stattdessen werden Kinder und Jugendliche zu Leistungsablieferanten, gefangen im Hamsterrad, fühlen sich zunehmend krank und schlecht, weil sie glauben, nicht zu genügen oder zu enttäuschen. Das ist gefährlich und entspricht weder den Kinderrechten noch der Würde des Menschen.

„Es fehlt an Sinn und Beteiligung. Stattdessen werden Kinder und Jugendliche zu Leistungsablieferanten, gefangen im Hamsterrad, fühlen sich zunehmend krank und schlecht, weil sie glauben, nicht zu genügen oder zu enttäuschen. Das ist gefährlich und entspricht weder den Kinderrechten noch der Würde des Menschen. “
Margret Rasfeld, 68, Schulleiterin i.R, Mitbegründerin der Initiative „Schule im Aufbruch“, Nachhaltigkeitsexpertin, Buchautorin

Und die Lehrer?

Den Lehrern geht’s im Grunde genauso: sie müssen die Lehrpläne erfüllen, sie sitzen vielleicht bis Mitternacht, um sich nette Sachen auszudenken, wie sie die Schüler motivieren könnten und sind dann enttäuscht, wenn sie diese nicht erreichen. Wenn man von einer Klasse in die andere rennen muss, wird auch Beziehung verhindert. Nur wo die Strukturen verändert werden, verändert sich auch für alle das Wohlbefinden und der Sinn. Und gleichzeitig lernen die Schüler viel.

Was hat Sie eigentlich selbst zu der Pädagogin gemacht, zu der Sie geworden sind?

Ich bin aufgewachsen in der 68er- Zeit mit all dem Engagement für Ökologie und Frieden und gegen Atomkraftwerke. Das hat mich sehr geprägt und ich habe von Anfang an Projekte mit Schülern gemacht und dabei gesehen, wie sehr sie sich begeistern lassen. Immer mehr habe ich die Räume dafür geöffnet und verankert. Zurück zur Frage: Im Grunde also all die Erfahrungen, die du machst, wenn du loslässt.

Aus aktuellem Anlass: In Vorarlberg wurde eine Petition gestartet, die sich gegen den wieder eingeführten Notenzwang richtet und für die freie Wahl der Leistungsbeurteilung ausspricht. Was sagen Sie dazu?

Die Noten müssen dringend abgeschafft werden, dürfen nicht mal mehr zur freien Wahl stehen. Wir befinden uns aktuell in der Transformation vom „Höher-Schneller- Weiter“ hin zur Kraft des Wir. In der Arbeitswelt hat man verstanden: Für kreative Lösungen brauchst du heterogene Teams. Durch die Leistungsgesellschaft und das Internet landen junge Menschen allerdings im Optimierungswahn. Noten unterstützen genau diese Ausrichtung und deshalb gehören sie dringendst zu Gunsten von individuellen Feedbacks abgeschafft. Future-Skills, also Metakompetenzen wie Teamarbeit, Empathie, Durchhaltevermögen, Frustrationstoleranz, Umgang mit Fremdem usw. sind ja alle nicht ablesbar von der Note. Noten fokussieren den Vergleich, die Konkurrenz und festigen diese antiquierten Haltungen.

Sind wir damit bei jenen Musterbrüchen, die Sie einfordern, damit sich etwas ändern kann?

Musterbrüche helfen uns, nicht mehr in altes Verhalten zurückzurollen. Ein solcher Musterbruch kann die Jahrgangsmischung sein, die keine Frontalbeschallung im Gleichschritt mehr zulässt. Oder die gewollte Heterogenität statt Selektion. Ja, auch Noten zu überwinden kann ein Musterbruch sein, weil dann etwas Gewohntes wegfällt und uns fordert, etwas Neues zu entwickeln. Wir entwerfen in Deutschland gerade eine Art „Alternativwährung“: ein digital gestütztes, übers Handy bedienbares Feedbacksystem. Hier können Schüler selber ihre Metakompetenzen eintragen und belegen, wie sie sie erworben haben. Da geht es also um Future Skills – nicht um Mathematik.

Apropos Skills: Welche Rolle sollten die digitalen Medien in der Schule spielen?

Sie sind erstmal ein schönes Werkzeug, wenn ich mich austauschen, einen Film drehen, mir Wissen aneignen will. Aber in der Grundschule brauchen wir sie gar nicht, da sollen die Schüler lieber auf den Acker gehen. Im Grunde geht es um digitale Mündigkeit und diese erfordert dieselben Metakompetenzen wie nachhaltige Entwicklung und die Fähigkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Also sich zu organisieren, im Team zu arbeiten, neugierig zu sein und keine Fehlerangst zu haben. Programmieren kann man nur, wenn man immer wieder Fehler macht und daraus lernt! Und dann natürlich: mit Fake News umgehen, Infos bewerten können, das ist digitale Mündigkeit. Nicht einfach nur im Computer statt im Heft zu schreiben. Da steckt ja kein Systemwechsel dahinter.

Was ist aus Ihrer Sicht das Um und Auf gelingender Inklusion?

Die neue Lernkultur. Inklusion heißt ja nicht, „Ich beziehe jetzt Kinder mit Handicap mit ein.“, Inklusion heißt „Jeder ist anders und wir freuen uns, dass jeder anders ist.“, Und weil jeder anders ist, muss es eine große Vielfalt an Angebot und Lernformen geben. Die Schule heute ist Einengung pur, die kulturelle Bildung wird Nebenfach genannt, doch wenn wir auf die Wirtschaft blicken, sehen wir: Die größte Kreativität entsteht in der heterogensten Gruppe. Dieses Strukturprinzip macht sich auch die aktuell sehr gehypte Methode des Design Thinking zunutze.

Nochmals zurück zu „höher, schneller, weiter“ als nicht zukunftsfähiges Paradigma. Hängen da aber Politik und Wirtschaft nicht noch an alten Zöpfen?

Das würde ich so nicht sagen. Die Politik war vielleicht noch nie geeignet für Musterbrüche, die Zivilgesellschaft ist da gefragt. Das Denken in Konkurrenz, die Orientierung am Profit statt am Menschen hat zwar alle Bereiche erfasst, aber überall spürt man inzwischen auch die Bestrebungen, genau das zu überwinden. Unternehmen wissen „new work“ braucht „inner work“ und auch am Beispiel der Alternativen Medizin oder Öko-Landwirtschaft sehen wir: Da gibt es große Entwicklungen. Überall. Und die Bildungspolitik ist halt Parteipolitik, das hat ja nicht viel mit Bildung zu tun, aber dagegen müssen wir uns wehren.

Wer aber sind „wir“? Oder anders gefragt: Wer hat die Hebel in der Hand, um Schule zu reformieren?

Am besten ist immer: von unten gewollt und von oben unterstützt. Schulen, die etwas anders machen, müssen hinausgehen und sich zeigen, so, wie auch Schule im Aufbruch vernetzt, inspiriert und zu einer Art Mutmachbewegung geworden ist. Bei Schule im Aufbruch Österreich haben wir erlebt, dass auch Schulinspektoren Teil der Bewegung werden. Wer aufbricht, bekommt von uns jedenfalls Unterstützung.

Das Interview führte: Simone Fürnschuß-Hofer, Jänner 2020

Petition: Nein zu Notenzwang
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